Alter Bauhaus-Entwurf: Die Zukunft ist nicht nur Stahl und Glas (FAZ)

Wenn man ans Bauhaus denkt, dann denkt man an weißen Putz. An Stahl. An Glas. Man denkt nicht an Holz. Dabei war das erste wirkliche Bauhaus-Gebäude ein Holzhaus, errichtet für den Bauunternehmer Adolf Sommerfeld, der das Holz von einem abgewrackten Kriegsschiff gekauft hatte und in seinem Sägewerk zuschneiden ließ. Heute, wo die Kritik an der CO2-Bilanz des Bauens mit Beton, Stahl und Glas immer lauter wird, erinnert man sich wieder an diese andere Bauhaus-Tradition.

Gerade wurde das „wachsende Haus“ in der Mittelbreite Dessaus feierlich eingeweiht, die Rekonstruktion beziehungsweise Erstkonstruktion eines Bauhaus-Bauwerks, das – an dieser Stelle – bisher noch nie realisiert worden war, obwohl es ursprünglich Teil eines der wichtigsten Bauhaus-Ensembles werden sollte. 1930 entwarf es der Bauhaus-Architekt und -Lehrer Ludwig Hilberseimer als winkelförmiges, modular aufgebautes Haus. Seit wenigen Wochen steht es nun in der Nähe des berühmten Laubenganghauses, das der zweite Bauhaus-Direktor Hannes Meyer 1927 errichten ließ und das seit 2017 zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Gemeinsam bilden Laubenganghaus und Flachbau jetzt ein Ensemble, so wie es Hannes Meyer und Hilberseimer Ende der zwanziger Jahre für die Erweiterung von Dessau-Törten geplant hatten.Zwischen vergessener Geschichte und Leitgedanken

Zehn der drei- bis viergeschossigen Laubenganghäuser aus der Feder Meyers und 531 alleinstehende Flachbauten, die ein wenig an eine Holzvariante der frühen Mies-van-der-Rohe-Bungalows erinnern, waren nach dem Entwurf von Hilberseimer ursprünglich geplant. Sozialbauten sollten neben diesen Einfamilienhäusern stehen, die Kombination unterschiedlicher Wohnformen sozialer Segregation entgegenwirken. Da Hannes Meyer das Bauhaus jedoch 1930 infolge einer politischen Intrige verlassen musste, wurden lediglich fünf der Laubenganghäuser realisiert.

Der „mit Abstand innovativste Beitrag des Bauhauses zum Wohnungsbau“ sei nahezu in Vergessenheit geraten, so der in Kassel lehrende Architekt und Theoretiker Philipp Oswalt. Er initiierte die Rekonstruktion des „wachsenden Hauses“: Innerhalb von neun Monaten hat er gemeinsam mit Studierenden, wissenschaftlichen Mitarbeitern und dem Architekturkollektiv Construct Lab den Flachbau geplant und erbaut. Oswalts Team beschreibt das Projekt als „Reenactment“, als ausgeführten Nachvollzug einer historischen Vision – und als Reflexionsinstrument, das vor allem die Einordnung und Kontextualisierung vergangener Ideen zum Ziel hat. Erst jetzt wird einem die Idee der Laubenganghäuser klar.

So erfahren auch Meyer und Hilberseimer durch das Projekt des „wachsenden Hauses“ eine Wertschätzung, die ihnen in den großen Erzählungen der auf die Bauhaus-Direktoren Gropius und Mies van der Rohe fokussierten Bauhaus-Geschichte verwehrt blieb. Die Verwirklichung des bislang unrealisierten Entwurfs erinnert nicht nur an eine vergessene Geschichte des modernen Holzbaus, sondern auch an den sozialpolitischen Leitgedanken des Bauhauses. Meyer plante schon damals die Laubenganghäuser gemeinsam mit seinen Studierenden – wobei sie nicht nur entwerfen, sondern auch selbst bauen sollten.Mehr als bloß eine Rekonstruktion

Auch diese Idee greift Oswalt auf. Lehre, Forschung und Praxis verschmelzen auf diese Weise, und Entwurf und Bau werden zum sich gegenseitig bedingenden Prozess, der den Studierenden ein tieferes Verständnis von Material, Funktion, Form und ihrem Zusammenspiel vermittelt. Das Projekt des „wachsenden Hauses“, das in seinem Namen auch die Idee der Erweiterbarkeit, der flexiblen Reaktion auf sich ändernde Lebenssituationen trägt, ist also mehr als eine Rekonstruktion. Es suggeriert nicht nur im Titel Prozess und Fortschritt – es führt eine Idee vor, die gerade heute unter ökologischen und demographischen Gesichtspunkten weitergedacht werden kann.

Das Projekt liegt nun in den Händen des Deutschen Werkbunds Sachsen-Anhalt. Das Haus soll in den kommenden eineinhalb Jahren als Begegnungsstätte dienen. Sollte die Stadt Dessau sich im Herbst nächsten Jahres gegen eine Weiternutzung des „wachsenden Hauses“ entscheiden, wird es weiterziehen: Es lässt sich schnell und einfach auf- und abbauen und ist daher für einen Ortswechsel prädestiniert.

Veröffentlicht in der FAZ, 30.08.2019