Bar der Biografien (Der Tagesspiegel)

Bei Netflix und im Bücherregal kann man derzeit faszinierenden Persönlichkeiten von Fran Lebowtiz bis hin zu Obama begegnen. Ihren Lebensgeschichten zu folgen und mit ihnen anonym intim zu werden, wirkt der sozialen Isolation entgegen.

Wie sich Humor gewinnen lässt? „Auf die gleiche Weise, wie man an Körpergröße gewinnt“, frotzelt Fran Lebowitz in der neuen Netflix Dokumentation „Pretend it’s a City“. Regisseur Martin Scorsese, der sich vor Lachen krümmt, hat dieses Porträt der 70-jährigen Schriftstellerin produziert. Man sieht Lebowitz dabei zu, wie sie durch die Straßen New Yorks flaniert, sich über die Selbstoptimierung ihrer Stadtgenossen wundert und ihrem Freund Scorsese unverwechselbar zynisch Aphorismen zuspielt.

Softer und eleganter gewährt auch die 86-jährige Schriftstellerin Joan Didion Einblicke in ihr Leben. Die Dokumentation „The Center Will Not Hold“ ist gerade ebenfalls auf Netflix zu sehen. Joan Didion, die in ihren Essays den Kulturkampf der 60er und 70er Jahre analysierte, erzählt, wie es war, ein fünfjähriges Mädchen zu interviewen, das von seiner Mutter LSD verabreicht bekam. Sie erzählt auch von ihrem Mann, ihrer adoptierten Tochter, dem Tod beider und wie ihr das Schreiben half, zu verstehen.

Auch die 2004 verstorbene amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag gesellt sich zu dieser Unterhaltung. In der kürzlich erschienen, knapp 1000 Seiten dicken Biografie von Benjamin Moser löst sich der kühle Schleier der intellektuellen Koryphäe und enthüllt eine selbstreflektierte, von innerer Unsicherheit und großen Widersprüchen geplagte Persönlichkeit.

Ob filmisch oder literarisch, diese biografischen Annäherungen beglücken in den Shutdown-Tagen ganz besonders. Weil die biografische Erzählung in einer Zeit, in der soziale Zusammenkünfte kaum mehr möglich sind und das Kennenlernen von Fremden schier unmöglich scheint, ein wunderbarer Weg ist, um neue Bekanntschaften zu machen.

Statt den immer selben Krisen-Smalltalk zu führen und sich gegenseitig im wahrsten Sinne des Wortes zu beschweren, öffnet die Biografie eine Tür zu passivem Socializing. Ähnlich wie in einer Bar darf man einer fremden Person zuhören, sie beobachten, sich über sie wundern, sich vergleichen oder an ihr abstoßen.

Das gilt nicht nur für den fiktiven New Yorker Ladies Book-Club. In dieser Art von Bar trifft man so ziemlich alle an, deren Handeln sich auf die eine oder andere Weise in der Welt manifestiert hat, doch deren Gedanken dahinter einem meist verborgen blieben.

Wer lieber die neue Ära der amerikanischen Politik in seiner Bar zu Gast haben will, liest sich Joe Biden, Kamala Harris und natürlich die Obamas hinzu. Wie bei jedem politischen Stammtisch dürfte der Eine oder die Andere über den Punkt hinausreden und auf Dauer etwas zu selbstverherrlichend werden. Doch das Risiko geht man gern ein, um an diesem ovalen Tisch sitzen zu dürfen.

Wie bereichernd solche Begegnungen sein können, zeigt auch die Kurz-Doku „What would Sophia Loren do?“ auf Netflix. Hier schildert Nancy, eine ältere Italo-Amerikanerin, wie die Schauspielerin Sophia Loren sie auf unbekannte und doch irgendwie bekannte Weise durch ihr Leben begleitet hat. Als es um die Partnerwahl ging, die Ehe etwas Sex-Appeal brauchte und selbst als ihr Sohn starb, hatte Sophia Loren in ihren Filmrollen einen ermutigenden, bestärkenden Rat für Nancy.

Denn nach dem Abspann oder Epilog bleiben einem die Stimmen der neuen Bekanntschaften erhalten. Ein Sammelsurium aus witzigen, obszönen, verständnisvollen, klugen und weitsichtigen Anekdoten nistet sich im Kopf ein. Sie spenden Rat, Humor oder Impuls und in diesen Tagen vor allem etwas Distanz zu sich selbst, den eigenen vier Wänden und der Realität vor der Tür.

Die Bar der Biografien verschont einen von der tagespolitischen Kakophonie und lässt einen zumindest kurz, ganz ungezwungen mit Fran, Joan, Susan, oder dem Oval Office anonym intim werden.

Veröffentlich im Tagesspiegel, 12.02.2021