Still, einsam, fernab der Zivilisation, umgeben von nichts außer der augenscheinlichen Weite des Ozeans liegt sie und reizt mit Bildern ursprünglicher Schönheit, Freiheit, Exotik, Erotik und Genuss. Die Insel – Ort der Begierde, des Potentials, doch vor allem: der Projektion.
Mit Beginn des Kolonialismus und seinen großen Geschichten der Weltentdeckung und -Eroberung, stets illustriert durch Literatur, Kunst und Kommerz, wurde die Insel zum Mythos. Als Gegenbild zur Industrialisierung und der westlichen Zivilisation wurde sie zum Symbol einer idealisierten Isolation, die heute erneut an Konjunktur gewinnt.
Nicht nur der Klimawandel und der bedrohlich steigende Meeresspiegel rückt die Eilande wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Auch als Ort des Ankommens, Abschirmens, der Aufnahme und des Abschiebens stehen Inseln derzeit hoch im Kurs. Lampedusa, Lesbos und neuerdings auch die dänische Insel Lindholm werden als exterritorialer Grenzraum genutzt. Hier werden vorgelagerte Inseln in ihrer Funktion wortwörtlich begriffen. An anderer Stelle werden hingegen hastig Bemühungen der eigenen Ein-Inselung und Isolation betrieben. Von der amerikanischen Mauer an der Grenze zu Mexiko, Mauerbauprojekten zwischen Israel und Palästina, Südafrika und Zimbabwe, bis hin zum Versuch Großbritanniens, sich von der EU wieder abzukoppeln. Der zu tiefst koloniale Reiz, sich fremde Inseln anzueignen und sich von ihrer Exotik entzücken zu lassen scheint gekippt zu sein. Doch bei genauerer Betrachtung verrät er nichtsdestotrotz, was der Inselmythos uns immer noch zu versprechen scheint.
Die Insel ist, ganz im Sinne Roland Barthes, ein Mythos des Alltags, also ein konstruiertes System der Kommunikation, das unsere Realität bewusst deformiert. Der Mythos gewährt uns einen Ausblick auf nicht gekannte Möglichkeiten, Narrative und Lebensweisen. Wie ein permanentes Alibi verweist er auf einen weiteren Ort, der alternative Geschichtsschreibungen anbietet. Wie kann libidöse Freiheit fernab vom westlichen Wertekorsett aussehen? Welche alternativen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens kann es geben? Bietet der Entzug von Kapitalismus und Konsum mehr Raum für andere Werte und wenn ja, welche? Der Mythos lädt zu utopischen wie dystopischen Vorstellungen ein. Doch nicht nur deshalb kommt er in Gestalt einer ambivalenten Doppeldeutigkeit daher. Die Insel ist nicht allein in der Fantasie beides, Paradies und Hölle zugleich. Bei genauerem Hinsehen erweist sich auch der Insel-Mythos sowohl als Mittel der Befreiung wie auch als Zeichen des Gefangenseins. Die Insel verspricht uns Befreiung und kann sie doch nur in Relation zum gegebenen Wertekonstrukt der westlichen Zivilisation verkörpern. Denn jeder Rückzug fragt automatisch nach dem Rückzug wovon? Die versuchte Exklusion aller westlichen Normen bleibt ihre größte Inklusion in unsere Begierde. Denn sich von etwas zu entziehen geht zwangsläufig nur, wenn man sich in erster Instanz auch von etwas – zum Beispiel der westlichen Zivilisation oder aber auch der Globalisierung – bewusst entziehen kann.
Schnell erscheint die Insel und die von ihr versprochene Isolation als Illusion – ein Wunschbild von Insel-Touristen, das die Realitäten der Insulaner außen vor lässt. Doch worin liegt nachwievor die Attraktivität dieses Mythos? An welchem Versprechen halten wir fest?
Der Insel-Mythos hat eine geschichtliche Grundlage, die es sich lohnt nachzuvollziehen.
In ihrem Buch „Künstliche Inseln“ hat sich Dora Imhof der Konstruktionsgeschichte dieser Inselfantasien angenommen. Anhand einer Untersuchung künstlerischer Inseldarstellungen der letzten drei Jahrhunderte zeigt Imhof, wie sich der Inselmythos vor allem durch Kunstwerke, Literatur und dessen Rezeption konzipiert und etabliert hat. Dabei fällt nicht nur die Parallelität des Künstler- und Inselmythos ins Auge, sondern auch die ambivalente Teilnahme vieler Künstler an der kolonialen Geschichtsschreibung. Wie die Insel, begreift sich der Künstler im 19. Jahrhundert (und zum Teil bis heute) als Genie, das mehr oder weniger freiwillig in einer gewissen Distanz zur Gesellschaft steht. Die Figur eines an der Gesellschaft leidenden Außenseiters spielt mit ähnlichen romantischen Sehnsüchten, wie die geschaffene Illusion der abgelegenen Insel. Nur durch ihren Bezug zur Zivilisation, kann sie einen Gegenpol behaupten. Dass auch die immer wieder propagierte Freiheit der Künstler eine konzipierte ist, ist an dieser Stelle selbstredend.
Der bekannteste künstliche Insulaner dieser Zeit bleibt Gauguin. Auch Imhof nimmt ihn exemplarisch auf, um aufzuzeigen, dass der künstlerisch vermittelte Insel-Mythos als Ort der ursprünglichen Unberührtheit und frei von gesellschaftlichen Hierarchien und Ökonomien in Gauguins Werk mehr über die westliche Moderne aussagt, als über Tahiti. Seine Kunst macht die Widersprüchlichkeit von Inselfantasien und die daraus resultierenden Konflikte besonders deutlich. Sie zeigen die enge Verflechtung mit der zeitgleichen kolonialen Expansion. Gauguins erste Tahiti-Reise wurde von den französischen Behörden finanziell unterstützt, seine Werke exotisiert.
Das sind Aspekte die derzeit viel Aufmerksamkeit bekommen und im Zuge des postkolonialen Diskurses nach und nach aufgearbeitet werden. Gerade Gauguins Oeuvre wurde unter anderen im Rahmen des Ausstellungsprojektes Museum Global letzten Sommer im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin unter feministischen, und postkolonialen Bezugspunkten kritisiert und neu kontextualisiert. Die Geschichtsschreibung der Kunst soll gerade nicht mehr die Beobachtung des „Anderen“, sondern der Vielen zum Fokus erheben. Inseln sind aus dieser zeitgenössischen Perspektive nicht mehr isolierte Orte, sondern Archipele von verbundenen, sich gegenseitig beeinflussenden Einheiten.
Dieser Ansatz klingt vielversprechend, doch die derzeitigen politischen Insel-Fantasien sehen anders aus. Die Welt scheint zwischen Isolation und Konnektivität zu verharren.
Während postkoloniale Debatten Prozesse der längst überfälligen Restitution von Kunstwerken und ethnologischen Objekten anstoßen und globale Resonanzen statt nationaler Kunstgeschichte in den Vordergrund stellen, werden gleichzeitig nationale Grenzen gezogen, betont und verteidigt. Auch wenn das Ausreißen auf unbekannte, abgelegene Inseln zwecks Isolation und Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Normen in Zeiten von Google Earth lächerlich wirkt und Isolation und Unberührtheit seit Langem Fiktion sind – der Wille zur Isolation erfährt eine Renaissance. Doch statt nach fernem, unbekannten Land Ausschau zu halten, scheint die Insel auf neue Art und Weise attraktiv zu werden. Die exotischste Form der Isolierung in Zeiten der stetigen Vernetzung und zunehmender Globalisierung ist das Zu-Hause-Bleiben. Die Heimat, nicht die Ferne, ist das neue Insel-Ideal.
Fragt man sich, was diese neue Form der Isolation uns verspricht, stößt man allerdings auf dasselbe Motiv, das bereits zu Kolonialzeiten dominierte. Denn wie auch zu Gauguins Zeiten zeigt sich, dass der Wunsch nach Isolation mehr über die Gesellschaft des Flüchtenden, als über das Insel-Dasein selbst aussagt. Ob durch Tourismus, politische oder gesellschaftliche Isolation – Das Insel-Ideal verspricht Übersichtlichkeit und einfache Lösungen in einer immer komplexer werdenden Welt. Doch Mythos bleibt Mythos. Die Insel-Fantasie bleibt eine realitätsdeformierende Illusion. Zum Tagträumen, Beobachten der eigenen Gesellschaft oder der temporären Erholung mag diese Art der Realitätsverdopplung funktionieren, doch als politische Strategie bleibt sie fraglich.
Geschrieben für die FAZ, Februar, 2019