Hotel, The; To hotel; hotel

Die Rollen meines alten Rimowa Koffers rasselten über den Asphalt. Er war schon da. Seinen eierschalenfarbenen Toyota Prius Plus in der Einfahrt geparkt, stand er lässig an die Vorderfront des Wagens gelehnt und wartete auf mich: Mein Taxifahrer. 

Hotel de Rome?
Ich nickte.

„Hotel-Stimmung ist eine blutende, zerlaufende Emotion, ähnlich zu Tinte, die in Berührung mit Wasser kommt. Labil breitet sie sich aus, verflüssigt sich.“ schreibt der amerikanische Autor Wayne Koestenbaum. In diesem Sinneszustand befand ich mich seit Tagen, wenn nicht Wochen. 

Das Hotel ist mehr als ein Ort, ein Subjekt oder Objekt. Es bezeichnet eine Tätigkeit, einen Vorgang, einen Zustand. Es geschieht einem. Es ist eine Art von Beschaffenheit, eine Eigenschaft. Eine Form des Existierens. Nomen, Verb und Adjektiv zugleich. Hotel, hotellieren, hotel.
Zu hotellieren bedeutet Fürsorge und Verweigerung. Es ist ein Modus der Flucht, der Geborgenheit, der Indifferenz gegenüber Allem und Jedem, insbesondere sich selbst. Hotellieren ist ein Akt des Nicht-Bleibens, hotel ein Farbton, der sich über ein Geschehen legt.

10 Minuten später stieg ich am Berliner Bebelplatz aus dem Taxi. Über dem Eingang zeichneten drei gehisste Flaggen die Bewegung einer Windböe nach. Ein Concierge empfing mich und bot an, mir alles abzunehmen, dem ich mich nicht mehr annehmen mochte, mich zu entlasten. 

Mit welchem Namen dürfen wir Sie einchecken? Fragte die freundliche Dame an der Rezeption.
Ich konnte meine konventionelle Identität ablegen und in die Anonymität abtauchen. Mich als Pocahontas vermerken lassen, damit selbst Hugh Grant Schwierigkeiten bekäme, mich hier zu finden. Alles ist möglich. Aber das heißt auch, nichts gilt mehr. Im Hotel wird das Sein abstrahiert, nackt. Wir werden ins Hotel geworfen, so wie Heidegger uns in die Welt geworfen sieht. In das unpersönliche, öffentliche und zugleich intime Wirrwarr. 

Mein Zimmer lag im vierten Stock und trug die Nummer 402. Die Zahl gefiel mir. Eine purpurrote Samtdecke bedeckte das Fußende des Betts. Ich knipse ein paar Mal das Licht an und aus, an und aus. Das Zimmer kam mir vertraut vor. Als wäre ich schon einmal hier gewesen. Auf dem kleinen Tisch neben dem Fenster lag eine Notiz. Das Haus hieß mich in geschwungener Handschrift herzlich willkommen. 

Ich legte mich auf das Bett, vergrub mein Gesicht in den Kissen. Hier konnte ich für immer liegen, mich ausruhen, bevor ich wieder hinaus ging. Die Matratze gab dem Druck meines Körpers nach und federte ihn empor. Was kümmerte mich das Leben da draußen, das matt durch das offene Fenster hinein schallte. Über hundert Türen reihen sich auf den Gängen des Hotels aneinander, schön geordnet und zusammenhangslos zugleich. Kein Mensch weiß von dem Menschen in seinem Nebenzimmer. Ich lag dort in meinem Zimmer, vis á vis de rien. 

Drei kleine Skulpturen hatte ich im Gepäck. Ich platzierte sie behutsam auf dem Tisch vorm Fenster, wo eben noch die Willkommensnotiz lag. Die Bücher aufs Fensterbrett, das Abendkleid auf den Bügel im Schrank, die Bad-Utensilien feinsäuberlich aufgereiht neben dem Waschbecken, Laptop auf den Schreibtisch, Lou Reeds „Perfect Day“ auf die Ohren. Mit jeder Bewegung wurde mir der Raum weniger fremd. Die vernebelte Stimme von Nico, der ehemaligen Lead-Sängerin von The Velvet Underground, löste Lou Reed ab. Sie war einer der verruchten, kreativen „Chelsea Girls“, die Andy Warhol 1966 in seinem Film über das legendäre New Yorker Hotel auf die Leinwand brachte. 

Das Hotel de Rome war kein Chelsea Hotel. Es war keine Enklave für avantgardistischen Rausch, keine rammschige Residenz für Menschen auf dem Sprung. Ehr ein Unterschlupf für Bill Murray und Scarlett Johansson, in einer Kategorie mit dem Park Hyatt aus Sofia Coppolas „Lost in Translation“. Es war auch kein Grand Hotel, wie das von Viki Baum, in dem arm, reich, berühmt und vergessen spektakulär aufeinander trafen. Und trotzdem war das Hotel de Rome ein Mikrokosmos für sich, mit eigenen Regeln und Ritualen. Auch dort konnte man die Vorzüge der Halb-Öffentlichkeit genießen. Neues, Unbekanntes erfahren und gleichsam intim und vertraut bleiben. Sich im Fremden spüren und im Rückzug wähnen. Man war Überall und Nirgendwo. 

„Ekstase“ ist dem griechischen Wort „existanai“ entlehnt – „fehl am Platz, deplatziert“. Das Wort beschreibt einen Zustand des Exils vom Gewohnten. Im Hotel sein, bedeutet in ständiger Ekstase zu sein. Man oszilliert zwischen der Innen- und Außenwelt. Man schwebt, schwimmt, treibt durchs Hotel.

„Das Dasein ist immer schon gestimmt, sagt Heidegger – vor allem, wenn das Dasein trinkt oder hotelliert.“ – nochmal Koestenbaum. 

Ich hatte Hunger, wollte aber nicht aus dem Zimmer. Ich wollte in meinem Kokon bleiben. Vom Fensterbrett aus erstreckte sich eine neue Welt. Berlin schien von diesem Blickpunkt aus alt und herrschaftlich, die düsteren, rohen Szenen der Potse (Potsdamerstraße) unendlich weit entfernt. Kein lebendiges Durcheinander, sondern klassizistischer Prunk: Die Humboldt Universität, der Dom, die türkisfarbenen Kupferdächer. Es hätte München, Paris oder Rom sein können. 
Hotellieren ist wie ein Road Movie auf Teppichen, Weltreisen im Zimmer. Eine Rebellion gegen die Event-Kultur, ein Antidot gegen ständige Effizienz und Happenings. Eine Homage an Stillstand und Monotonie. Michel Foucault, Soziologe und Philosoph, hat dafür den Begriff Heterotopie gefunden. Eine realisierte Utopie, in der unsere gesellschaftlichen Ordnungen gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet werden. Ein Raum aller Möglichkeiten. Gewissermaßen ein Ort außerhalb aller Orte, der nichtsdestotrotz tatsächlich geortet werden kann. Ein Terrain für Träume, Affären oder Geschäfte, Grenzüberschreitung und Neusortierung.

Das hoteleigene Duschshampoo roch nach Naturkosmetik. Ich schaute den Schaumbergen beim Wachsen zu und sank tief in die heiße Badewanne. Langsam ließ ich Kinn, Hals, Hinterkopf und schließlich die Ohren abtauchen. Die Geräuschkulisse wurde dumpf. Ich schloss die Augen. Der Pool war wegen Corona geschlossen. Ein Verlust. Er liegt im ehemaligen Tresor des historischen Bankgebäudes und hätte mir mit Sicherheit einen vitalen Goldrausch beschert. Ich stieß mich trotzdem vom Beckenrand ab und glitt mit entschlossenen Schwimmzügen dem gefliesten, hellblauen Boden entgegen. Die Lichtreflexionen schimmerten friedlich und edel vom Schwimmbecken herauf. Mit einer energischen Bewegung schraubte ich mich um die eigene Achse, damit ich aus der Tiefe die verschwommene Außenwelt sehen konnte. Nichts außer die kleinen Wellen, die meine Bewegungen nach sich zogen, kommentierten mein Dasein. Ich ließ den letzten Sauerstoff aus meinen Lippen. Die kleinen Bläschen stiegen langsam und wirr an die Oberfläche. Dann ließ ich mich zurück Richtung Außenwelt gleiten. Ich stieg aus der Badewanne und blickte an mir herab. Ich trug Hosen aus Schaum. 
In leeren Räumen ist es unsere Pflicht zu träumen.

Vorm Spiegel, eingehüllt in weiße Handtücher, musterte ich mich. Jetzt musste ich mich entscheiden: das kurze Schwarze mit Rückenausschnitt oder schlicht, wie immer? Das Hotel bot mir beides an. Extravaganz und Sexappeal an der Hotel Bar oder die Beobachtung aus der Ecke heraus, das Leben der Anderen, ihre Geschichten, Emotionen, Interaktionen. Schon wieder wünschte ich, ich hätte 24 Tage, nicht Stunden, um alle möglichen Facetten einmal anziehen zu können. Es wird das schwarze Kleid. Mit roten Lippen.

Die Tür fiel schwer ins Schloss und hinterließ einen stumpfen Hall im Korridor. Ein Blick links, rechts. Fahrstuhl. 

Wollen Sie auf Ihre Begleitung warten oder einen Aperitif vorweg?
Man geht viel zu selten auf Blind Dates mit sich selbst. 
Der kleine Innenhof des Restaurants war von einer charmanten Holz-Leinen-Konstruktion überdacht, eingezäunt von dunkelgrünen, gestutzten Hecken. Darunter fanden elegante Männer in frisch gebügelten Anzügen mit ihrer Begleitung Platz. Zu meiner Linken ein Date. Vermutlich das Erste. Keine Funken. Ihre Stimme war etwas zu laut für das Arrangement. Fröhlich, bemüht, aber einfach zu laut. Er trug eine nichtssagende Miene oder runzelte die Stirn. Seine Reaktion wirkte schonungslos, fast pubertär, so wie er in seinem weißen, etwas zu engem Hemd mit schlaffer Körperhaltung und aufgestützten Ellenbogen am Tisch saß. Er war vielleicht Mitte Dreißig und offensichtlich zu einer beachtlichen Menge Geld und Gleichgültigkeit gekommen. War das wirklich ein Date? 
Neben dem Glamour und Glanz hat das Hotel unweigerlich auch etwas Zwiespältiges, Fragwürdiges, ja Anrüchiges, etwas Frivoles an sich.

Am Tisch geradezu das Gegenteil: Ein herzliches Beisammensein von Verwandten. Ein Besuch in Berlin. Den jüngeren Mann hatte ich im Fitness Studio beim Gewichtheben beobachtet. In dem gedämmten Licht wirkte er wie eine andere Person. Seine Frau hat eine gemachte Nase. Dem Älteren war das alles zu viel. Er verstand die Notwendigkeit des ganzen Luxus nicht. Unweigerlich war er für den Wohlstand verantwortlich, der diese Familie einlullte.

Hotellieren bedeutet beobachten und erzählen. Zu sehen, dass man sieht. Zu horchen, was wer hört. 
„Ein Seitensprung erfordert Anonymität. Denken, Lesen und Schreiben ebenso.“- Koestenbaum. 
An diesem Abend schrieb ich mehr, als in den letzten zwei Monaten zusammen. 
In der Zwischenzeit begann es zu regnen. Der Ausflug auf die Dachterrasse, zur Hotel Bar, schien zunehmend obsolet. Sämtliche Gäste flüchteten ins Innere des Restaurants. Unterschiedliche Sprachen summten eine diffuse Geräuschkulisse zusammen. Ich lehnte mich zurück, den dickflüssigen Martini Bianco im Gaumen und atmete aus. Kaum ein Gespräch war meinem Gehör noch zugänglich. Egal. Der Sirup sickerte durch meine Blutbahnen. Die kalte Regenluft strömte durch die weit geöffneten Fenster und kühlte meine Wangen, wie ein kaltes Glas Wein, das man an heißen Tagen gegen seine Schlagader am Hals drückt. Ich hatte den Abend in voller Konversation verbracht.

„Guten Morgen, Frau Wald. Es ist 09:00 Uhr – hier ist Ihr Wake-up Call von der Rezeption!“
Mein Nacken schmerzte von den vier Kissen, die auf meinem Kingsize Bett arrangiert waren. Anfängerfehler. Die hart gebügelte, weiße Bettwäsche lag angenehm kühl auf meiner Haut. Ich fühlte mich wie Krösus. Maximal ein Bademantel durfte in dieses Gefühl jetzt intervenieren. 
Eggs Benedict, drei Etagen Käse auf einem Etager, Chia Pudding und ein grüner Saft zum grünen Tee. Der Room Service nahm meine Bestellung höflich entgegen. Keine 15 Minuten später klingelte es an meiner Tür und ein Servierwagen wurde mir vors Bett geschoben. 
Historisch kommt „Hotel“ von dem französischen „hôtel“, das wiederum das lateinische „hospitale“ in sich birgt – es changiert zwischen Gasthaus und Krankenstation. Das befriedigende Gefühl, an Ort und Stelle zu bleiben, ein Genuss von Passivität und Hingabe. Ohne etwas zu tun, wurde man willkommen geheißen, verpflegt und umsorgt. Man war jemand, ohne jemand sein zu müssen. 

Simone de Beauvoir und Satre lebten in Hotels. Auch Joseph Roth, Elvis Presley und halb Hollywood. Udo Lindenberg tut es immer noch. Edward Hopper malte Bilder von Hotelzimmern, von Frauen in ihnen, von Hoteldamen. Ich verspürte die Sehnsucht eine von ihnen zu werden. Eine Hoteldame schwebt außerhalb der Grenzen von Zeit und Raum. Sie hat ihre eigenen Routinen und Regeln im Haus. Einen Zugang zum ewigen Kommen und Gehen der Leute, der in 24 Stunden nicht zu erreichen war. Hotellieren braucht Gewohnheit, wiederholte verstohlene Blicke und Begegnungen, damit es seine Welt des Dazwischen vollends entfalten konnte. Es erschöpft sich nicht in der bloßen Tatsache, dass alles fremd ist. Das Fremde muss Anteil an einem gewinnen. Nur so kann man sich wirklich fremd und eigen, anonym und intim werden. 

Während ich die Brombeeren von meinem Chia Pudding wegaß, schaltete ich den überdimensionalen Fernseher an. Fernsehen – das gab es in meiner Generation eigentlich gar nicht mehr. Den Luxus, vom Zufall des Zappens beschert zu werden, hatte man gegen hyper-individualisierte Programmmenüs ausgetauscht. Selbst bei der Zerstreuung musste man entscheiden, wer man beim Ab- oder Anschalten sein wollte, womit man sich identifizierte. Im Hotel ließ es sich gut fernsehen. Das abgeschiedene Zimmer durfte problemlos in blaues, flackerndes Licht getaucht und mit zufällig einströmenden Unsinn gefüllt werden. Auch früh am Morgen. Ich hätte in diesem Zustand unendlich weiter verharren können.

Waren Sie mit Ihrem Aufenthalt zufrieden?
Die Stimme des Rezeptionisten riss mich aus der Trance. 
Heterotopien verfügen über ein System der Öffnung und Schließung. Man kann nur mit einer gewissen Erlaubnis und mit der Vollziehung gewisser Gesten ein- und austreten. Check-out. 
Eine Unterschrift später saß ich in der Lobby und beobachtete das Treiben der An- und Abreisenden. Sibel Kekilli, Tatort Kommissarin und Fatih Akins Sternchen posierte für ein Foto. Die Schauspielerin wurde in der Hotel Bar nebenan interviewt. Sie lächelte mich entschuldigend an, als ich an ihr und der Kamera vorbei huschte.

Mit dem Gefühl, etwas vergessen zu haben, stieg ich ins Taxi. Auf der Rückbank schloss ich die Augen. In Gedanken prüfte ich mein Gepäck auf Vollständigkeit – das Gefühl hielt an. Irgendetwas schien ich im Zimmer 402 hinter mir gelassen zu haben. Am Potsdamer Platz rief mir ein Schaufenster in großen Lettern „Willkommen im Leben“ zu. Ich war erschöpft. Reisen ist immer auch anstrengend.

Zuhause angekommen, schloss ich die Tür zur Wohnung auf. Der saure Geruch des Bio Mülls schlug mir entgegen. Ich stellte den Koffer ab, nahm den Müll, trug ihn raus und hoffte, dass mein weißer Leinenanzug dabei verschont blieb. Zurück im Alltag, für den ich mich selbst verantwortlich zeigen musste. Ich öffnete das Fenster, setzte mich auf die Couch und skippte durch die News, wartend als würde mich gleich jemand aufrufen. Der Teekessel pfiff und ich versenkte den Beutel im heißen Wasser. Ich fühlte mich wie nach einem One-Night-Stand. Paralysiert, verkatert, depersonalisiert. 

In den folgenden Tagen hatte ich das Gefühl zu lügen, wenn mich jemand fragte, wie es war. Als wäre ich nicht dort gewesen, obwohl ich mich bruchstückhaft an Gerüche, Bilder und Gefühle erinnerte. Es war surreal. Wie ein Traum, in den ich frei ein- und austreten konnte. Das Hotel war mein Anderswo. So weit weg, wie eine Insel im Pazifik. Ein Exil nebenan. 

Wer braucht Fernreisen, wenn Distanz so relativ ist?