Kunst als Frühwarnsystem (Der Tagesspiegel)

Künstler haben von jeher ein seismografisches Gespür. Ein Blick auf die letzte Biennale in Venedig und ihren Kommentar zu aktuellen Krisen.

“Mögest Du in interessanten Zeiten leben“ mahnte uns der Kurator Ralph Rugoff letztes Jahr mit dem Titel der wohl wichtigsten Kunstausstellung der Welt. Die 58. Venedig Biennale sollte mit diesem chinesischen Fluch auf die aktuell herausfordernden oder gar bedrohlichen Zeiten hinweisen und zugleich dazu einladen, mit Hilfe der Kunst Komplexität zu begrüßen und in ihr auszuharren. Der politische Diskurs sei von einer zu starken Vereinfachung beherrscht, die ihren Ursprung im Konformismus oder der weit verbreiteten Angst findet.

Bei dem Titel – das muss gesagt werden, bevor es sich glatt in ein Narrativ einfügt, das nachher noch Donald Trump in die Hände spielt – handelt es sich um ein chinesisches Sprichwort, das nicht etwa der Kulturgeschichte Asiens entspringt, sondern auf ein Missverständnis des britischen Abgeordneten Sir Austen Chamberlain zurück geht. Entnommen von einem Diplomaten, der in Asien gedient hatte, zitierte er jenen Fluch in der Öffentlichkeit, der in Wirklichkeit – zumindest bis zu diesem Zeitpunkt – nicht existierte. Nachdem Robert F. Kennedy diesen Fluch aufgriff und durch die Worte „Ob wir es wollen oder nicht – wir leben in interessanten Zeiten“ ergänzte und die Biennale ihn letztes Jahr zur Sensation erhob, ist dieses Sprichwort tatsächlich im allgemeinen Sprachgebrauch angekommen und damit existent, wenn auch nicht in China.

Makaber wirkte die Wahl des Ausstellungstitels schon im Sommer 2019, da er irgendwie nicht eindeutig als Fluch zu identifizieren war. Schließlich erfreut sich die Kunst bereits seit einigen Jahren an tagespolitischen Themen und bedient sich dabei nicht ungerne dem Aufmerksamkeit-generierenden Mittel der Skandalisierung. Das Sprichwort als Segen zu verstehen, wirkt unter Anbetracht derzeitiger Ereignisse deutlich verschrobener denn je. Covid-19, die zunehmende Anzahl an Kriegsflüchtlingen aus Syrien und der Klimawandel sind dann doch etwas zu interessant, weil unberechenbar. Auch und gerade für die Kunst und Kultur.

Nun leben wir also dank des Virus weltweit in noch interessanteren Zeiten. Die Welt hält inne und ist genau deshalb flächendeckend beunruhigt. Der DAX befindet sich im freien Fall und mit ihm das Vertrauen in die gesellschaftliche Ordnung, die vorher ein wenig zu selbstsicher den Krisen zu trotzen wusste. Doch natürlich birgt auch diese Krise Chancen.

Jan Ross stellt beispielsweise eine Rückbesinnung auf die Vernunft in der neuen Ausgabe der Zeit in Aussicht. Die Unsicherheit würde den Populismus und seine Vertreter als Demagogen, Fantasten und Maulhelden entlarven. Die lang vermisste Solidarität würde wieder einkehren, weil man nun (endlich?) wieder Probleme von ernstzunehmendem Ausmaß erlebt und teilt.

Doch was macht das mit unserer Gesellschaft und wie reagiert die Kunst und Kultur auf diese Umstände?

Die Situation trifft selbstverständlich auch den Kunst- und Kulturbetrieb hart. Unlängst haben Museen, Konzertsäle, Festivals und Fußballstadien damit begonnen den Zutritt zu verweigern oder ihre Veranstaltungen abzusagen. Das Verbot der Großveranstaltungen trifft den kulturellen Bereich einer Gesellschaft ins Mark. Denn eine Sphäre der Fluktuation und Reflexion, wie die Kunst und Kultur, muss sich eine Gesellschaft leisten können. Sie ist ein Luxusgut. Und damit unmittelbar von den Almosen einer florierenden Wirtschaft und Politik abhängig. Rauscht die Wirtschaft in den Keller, ist Kunst und Kultur das erste, das abdingbar wird. Entsprechend rechnen die anstehenden Kunstmessen wie die Art Basel und alle Galerien und Kunstschaffenden, deren Jahresumsatz unmittelbar an das Spektakel für internationale Sammler*innen gebunden ist, mit großen Einbußen. Auch anstehende Biennalen, Festivals und reguläre Ausstellungen befinden sich erst einmal on hold. Sie alle bereiten sich auf

Verschiebungen, Absagen oder Umwandlungen vor. Viele setzen dabei auf die Digitalisierung kultureller Veranstaltungen. Preisverleihungen, Theateraufführungen, Konzerte und Fußballspiele werden im sogenannten Geister-Modus durchgeführt und übertragen. Einige versprechen sich bereits die langersehnte und ohnehin längst überfällige Digitalisierung der Kunst- und Kulturwelt. Doch die Digitalisierung der anstehenden Veranstaltungen und Projekte kostet Geld und ist nur bedingt möglich. Zwar lässt sich ein Fußballspiel oder Konzert problemlos digital aufzeichnen und übertragen. Ausstellungen hingegen müssten mit weitaus größerem Aufwand digitalisiert werden. Virtual Reality wäre an dieser Stelle die einzige ernstzunehmende Alternative.

Doch ob Museum, Konzertsaal oder Stadion, so oder so bleiben in diesen Tagen die ästhetischen Erfahrungen und zwischenmenschlichen Begegnungen aus. Das mag harmlos klingen und ist mit Sicherheit nicht lebensbedrohlich. Aber es hinterlässt Spuren in der Gesellschaft.

Die Kunst bietet einen Raum der Reflexion. Sie schafft es, Menschen für fremde Diskurse zu öffnen und damit Distanz zu sich und gesellschaftlichen Strukturen zu gewinnen. Dass Ausstellungen und Theaterstücke von Vermittlungsprogrammen und sozialen Events umspielt werden, ist dabei kein Zufall. Auf diese Weise entsteht ein interaktiver Diskurs, der sowohl emotionale wie rationale Themen verhandelt und Menschen miteinander verbindet. Ein Fußballspiel vereint ebenso stark, wenn auch auf andere Art und Weise. Hier haben wir uns als Gesellschaft ein Ventil für Fluktuation und gemeinsames Erleben geschaffen. Das bestärkt den Verbund einer Gesellschaft. Wir fiebern mit, wir zerstreuen uns, wir treten geschlossen hinter eine Idee oder setzen uns mit der Welt sowie ihren unterschiedlichen Realitäten auseinander und suchen die Diffusion des eigenen Ichs in der Transzendenz.

Die Bedeutung dieses Begegnungsraums wird einem eventuell erst bewusst, wenn er genommen wird. Denn mit dem schwindenden kulturellen Angebot geht ein wichtiger Teil des öffentlichen Lebens unter und infolgedessen eine essentielle Ebene unserer gesellschaftspolitischen Teilhabe.
Erst durch die Begegnung des Anderen können wir uns selbst und unsere Realität an sich begreifen. Als soziale Wesen manifestieren wir uns in der Abgrenzung zu unserem Außen. Das geschieht vor allem durch Kommunikation. Aber auch durch Beobachtung oder die Teilnahme an Ereignissen (wie z.B. an einem Fußballspiel, oder Theater). Auf diese Weise können sich Differenzen und Gemeinsamkeiten konstituieren, die das Fundament unseres Weltverständnisses bilden.

Es gilt daher, den doppeldeutigen Spruch „netflix and chill“ nicht zum einzigen Gebot der Stunde zu erheben. V ielmehr sollten wir uns überlegen, wie wir mit V ernunft, Solidarität, kulturellem Erfinderreichtum und Mut zur Horizonterweiterung, weiterhin in dieser Welt bleiben können. Vielleicht könnte die derzeitige Situation dann tatsächlich in interessante Zeiten münden.

Veröffentlicht im Tagesspiegel, 30.03.2020