Hands On! (Der Tagesspiegel)

Unsere Autorin Carlotta Wad befindet sich gedanklich oft auf assoziativen Abwegen. In ihrer Kolumne beobachtet sie das Große im Kleinen, das Kleine im Kaleidoskop.

Wer ein Handicap hat, hat ein Defizit. Und Defizite haben wir pandemiebedingt eine ganze Menge angesammelt. Wortwörtlich. Zumindest fast. Handicap bedeutet im Englischen so viel wie Hand in der Cap. Wir hingegen hatten in den letzten zwei Jahren eher ein Handibag: Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, traute sich ab März 2020 niemand mehr, die Welt zu berühren. 

Die feingliedrigen, langen, dicken, kleinen Fünflinge kamen samt ihres Dreh- und Angelpunkts in Sicherheitsverwahrung. Wer wusste schon, ob nicht blinde Passagiere auf der Handfläche des Nächsten rumlungerten und schnurstracks über die Knöchel hinweg, den Nagel hinüber, auf die Avocado im Supermarkt oder den Türknopf der U-Bahn und von dort, direkt in den eigenen Leib spazierten. Viel zu riskant.

Nun könnte man es wie die Golfer machen und das Handibag mit einem eleganten Schwung neu konnotieren, es quasi mit einem Schlag hin zu einem Vorteil drehen. Die Griffel, so könnte man argumentieren, blieben auch jetzt, wo der Virus an Gefahr verliert, besser in den Taschen, statt fuchtelnd in Aktion. Virologen raten ohnehin schon länger vom Hände schütteln, Türen klinken und Geländer streicheln ab. Ein Leben ohne Erreger stünde uns in Aussicht, ein Ende der Handgreiflichkeit. 

Und gleichzeitig: Das Ende jeden Halts. 

Kanzler Scholz und seinem Vize Habeck dabei zuzustehen, wie sie sich kumpelhaft auf der politischen Bühne einen Faust-Check geben, wirkt zwar amüsant und ein kleines bisschen niedlich. Aber spätestens seit Beginn des Angriff-Kriegs auf die Ukraine, zeigt sich, welche symbolische Wirkung ein Handschlag entfalten kann. Wer sich, wie zum Beispiel die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und der Ukrainische Präsident Selenskyj, die Hände reicht, und wem sie entzogen wird.  

Denn Händeln bedeutet immer auch handeln. Der Handschlag zelebriert Respekt, Annährung, Verbindlichkeit. Schüttelnd, drückend, fummelnd kommuniziert er, dass hier und jetzt eine Begegnung, nicht eine Konfrontation stattfindet.

Wir nehmen etwas in die Hand, um es zu verstehen. Nur wer anfasst, stößt auf Widerstand, kann sich an ihm reiben und ihn produktiv machen. Das gilt politisch wie privat. Ohne Hände, sind wir haltlos.

Erst das Abtasten lässt einem Dinge näher kommen, sie spüren. Wird man mit einem Menschen nicht erst intim, wenn man ihn in den eigenen Händen hält? Wenn man die Umrisse der Gesichtszüge mit dem Zeigefinger nachzeichnet, entlang der Narben und Falten, langsam die Anatomie dessen begreifend, was man begehrt? Wer etwas festhält, bewahrt. Wer etwas erfasst, begreift. 

Und begriffen haben wir in den zurückliegenden, andauernden und bevorstehenden Infektions-Wellen eigentlich nur, dass zweidimensionale Bewegbilder unserer Kolleg:innen, Freund:innen und Partner:innen, ungreifbar bleiben. Realität funktioniert multi-dimensional. Man muss sie nicht nur sehen, sondern auch schmecken, riechen und sich vor allem tastend ihrer Existenz versichern können. 

Kein Wort kann fassen, kein Begriff festhalten, wie unsere Hände. Sie sind das Instrumentarium, das uns bleibt, um uns in der immer virtueller werdenden Realität, im Hier und Jetzt, zu verorten. 

Es lohnt sich daher den Wellen und Virologen ein wenig zu trotzen und wieder mit der Welt in Berührung zu treten, ein Comeback der Hände zu feiern. Die Oberflächen zu spüren, um sie zu durchdringen, Körper und Formen zu umreißen, uns und alles wieder zu befummeln, zu ertasten, zu begreifen.

Vielleicht hätten wir dann ganz allgemein wieder etwas mehr im Griff.

Veröffentlicht im Tagesspiegel, 14.04.2022