Irgendwo Dazwischen (Der Tagesspiegel)

Das Dazwischen kann als Spiel mit Identität und Ambivalenz reizvoll sein. Doch aktuell wird es zum Dauerzustand. Was macht das mit uns? 
Eine Annäherung an den Zustand des Dazwischens.

Weder hier noch dort  – der Zustand des Dazwischens ist vage und von diffuser Gestalt. Man befindet sich zwischen Tür und Angel, erfährt nichts Halbes und nichts Ganzes, ist außer und bei sich zugleich. Das kann ein räumliches Erlebnis sein, wie bei einer Zugfahrt, aber auch eine mentale Erfahrung, irgendwo zwischen Rausch und Narkose – oder eben zwischen März und Dezember dieses Jahres.

Als flackerndes Spiel mit Identität und Relation hat das Dazwischen seinen Reiz. Phasen des Transits sind Phasen der Bewegung. Sie verändern uns oder zumindest etwas in uns, auch wenn wir währenddessen nicht recht wissen, wohin es geht. Das macht die Adoleszenz so aufregend und gleichsam so grausam. Es zieht einen in den Coming-of-age-Romanen von Autorinnen wie Sally Rooney in Bann, und es zeichnet die Lust am Flirten, am Reisen oder der Kunst aus. Es ist die Ambivalenz, das Hin- und Hergerissensein, das Vortasten in unbekanntes Terrain, das das Dazwischen so kostbar macht. 

Nun aber wird es zum Verhängnis. Eingeklemmt zwischen plötzlichem Beginn und ersehntem Ende der Pandemie, verharren wir und schauen zu, wie sich das Dazwischen immer weiter ausdehnt. Der Transit wird zum monotonen Dauerzustand. 

Schaut man auf die letzten acht (ja, es sind schon acht!) Monate zurück, war das  nicht immer so. Als die Bundesregierung im März den ersten Lockdown ausrief, begann eine Phase impulsiver Emotionen, geprägt von Angst vor dem Virus und der Panik vor Versorgungsengpässen, nicht nur beim Toilettenpapier. Die Panik wurde alsbald durch reges Reflektieren über das gesellschaftliche System abgelöst. Das Virus wurde zum Seismografen für soziale Ungerechtigkeiten, die Auswirkungen der Industrie auf das Klima und die Systemrelevanz ganzer Berufsgruppen. Corona wurde als Chance und Wendepunkt betitelt, es begann die Suche nach einem „new normal“. Selbst Politiker zeigten sich nachdenklich und umtriebig in ihren Homeoffices. 

Die erste Lockdown-Erfahrung kam intensiv, aufwühlend, energetisch daher. Vieles war offen und undefiniert, man stand auf der Schwelle zu etwas Unbekannten, lebte im Modus des „betwixt and between“, wie der britische Ethnologe Victor Turner es nennt. Das Noch-Nicht riss, im Sinne seiner adverbialen Verbindung von Zeitlichkeit (noch) und Negativität (nicht), den Horizont der Erwartungen auf. Nicht die konkrete Veränderung, sondern der Prozess, das Wagnis, die Skizze einer Veränderung verlieh dieser Zeit mitunter den Charakter eines Rauschs.  

Ein halbes Jahr später scheint diese Energie verpufft zu sein. Der zweite Lockdown ist mühsam und kräftezehrend. Der Rausch kippt in die Narkose.

Denn ein gewöhnliches Dazwischen ist zeitlich begrenzt. Die Ekstase, die es in sich birgt,  kann nicht mehr und nicht weniger als ein vorübergehendes subversives Flackern sein. In der Phase danach, wird sie verstanden und geprüft,  in die Normalität eingegliedert . Überstrapaziert man das Dazwischen, schlägt die Ambivalenz in schwer erträgliche Unsicherheit um. Die Dosis macht das Gift.

Was als Rausch noch kickt, betäubt auf Dauer, mündet in die Leere, die Lethargie, eine lähmende Konfusion. Man ist gefangen in einem Übermaß an Fremdbestimmung, das sich nun nicht mehr nach Impuls, sondern nach Affront anfühlt. Statt in Bewegung befindet man sich jetzt im Wartezimmer, hoffend, dass der eigene Name bald aufgerufen und die Stagnation ein Ende nehmen wird. Denn Warten bedeutet Unterbrechung, Entzug, Aufschub. Der Zeitstrom ist blockiert. Es geschieht nichts und schon gar nicht das, was man erwartet hat.

Der Zwang, passiv verharren zu müssen, hat immer etwas Demütigendes an sich.  Wie im Stau, beim Warten auf dem Bürgeramt oder beim Arzt machen auch Unruhe und Protest sich Luft – aufgestaute Emotionen angesichts eines verwehrten Erwartungshorizonts. Das energetische Potential des Dazwischen schlägt in die paradoxe Gleichzeitigkeit von Aggression und passivem Ausharren um.
Genervt und ohnmächtig liegen wir nun auf der Couch und denken nicht länger über die Veränderung der Verhältnisse nach.  Die Revolution ist so weit weg wie lange nicht.  

Veröffentlich im Tagesspiegel, 19.11.2020