Jenseits der Vernunft (Der Tagesspiegel)

©Julia Stoschek Collection

Abtanzen in ferner Zukunft: Die Julia Stoschek Collection zeigt eine Filmtriologie des Kanadiers Jeremy Shaw

Die Treppe hoch, an den ikonischen weißen Vorhängen vorbei, schlägt einem direkt der erste Rausch entgegen: Das Gesicht eines jungen Mannes, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, in absoluter Ekstase. Seine Gesichtsumrisse verdreifachen sich, die Konturen verschwimmen. Es ist der markante Doppelblick, den der kanadische Künstler Jeremy Shaw mittels eines Prismas erzeugt, um den Zustand absoluter Katharsis sichtbar zu machen. 

Jeremy Shaw, 43 Jahre alt, scheint von dem Streben nach transzendentalen Erfahrungen regelrecht besessen zu sein. Mit wissenschaftlicher Präzision erforscht er seit Jahren, wie sich das menschliche Bewusstsein manipulieren und ausdehnen lässt. 
Seine Einzelausstellung Quantification Triology ist die erste, die seit Januar und dem darauf folgenden Kultur-Shutdown in der Julia Stoschek Collection auf der Leipzigerstraße in Berlin gezeigt wird. Ein Auftakt, der nicht besser passen könnte.
Denn während das populäre Berliner Nachtleben und mit ihm viele Formen des Rauschs weiterhin still stehen, darf man in dem immersiven Werk des Künstlers Ersatz finden und der Sehnsucht nach Gegenwartsflucht und Bewusstseinserweiterung freien Lauf lassen. 

Shaws Arbeiten wurden zuletzt im Centre Pompidou in Paris, im MoMA PS1 in New York und auf der 57. Biennale von Venedig gezeigt. Es ist vor allem die Obsession, sich spüren zu wollen, die Julia Stoschek und den Künstler verbindet. Beide sind bekennende Liebhaber der exzessiven Berliner Clubszene. Ihre geteilte Leidenschaft zu Techno-Musik und Rave durchflutet die Ausstellungsräume.

Quantification Triology besteht im Kern aus drei Videoarbeiten: I Can See Forever (2018), Liminals (2017) und Quickeners (2014). Sie funktionieren als Gesamtkunstwerk, bilden, in den Worten der Sammlerin Julia Stoschek, zusammen ein Opus Magnum. Thematisch miteinander verwoben, berichten sie von der Zukunft nach der „Quantification“, einem gesellschaftlichen Zustand absoluter Rationalität. Im Fokus steht dabei der ewige Kampf um Effizienz und spirituellem Rausch, Rationalität und Irrationalität. 

Die Arbeit I Can See Forever erzählt die Geschichte des 27-jährigen Roderick Dale, der es sich in der quantifizierten Zukunft zur Aufgabe macht, sich in Trance zu tanzen und der auferlegten Rationalität damit zu trotzen. Schritt für Schritt schaut der Betrachter zu, wie Dale sich in seiner Bewegung verliert, sich der elektronischen Musik fügt. Ein Trance-Crescendo erfüllt den Kinosaal, bis es ins Psychedelische kippt. Der Tänzer löst sich in Tausende Pixel auf, die sich in schlierenden Farb- und Formellen zu neuen Körpern formieren. Ein Stilmittel von Shaw, das auch in dem Video Liminals auftaucht. Zurück bleiben leere, entblößte, manisch und gleichzeitig ehrlich hereinblickende, verformte Gesichter. Ein Zustand zwischen dem Tod und absoluter Lebendigkeit. Katharsis.

Doch Jeremy Shaws Arbeiten gehen über das visuelle Spektakel hinaus. In seinen Filmen stellt er unseren Zeitkomplex auf den Kopf. Den gewohnten Blick von der Gegenwart in die Zukunft kehrt er um, nimmt die Zukunft als Ausgangspunkt und schaut in seinen dokumentarisch anmutenden Filmen zurück. Er zeigt uns zukünftige Vergangenheiten, zeigt uns, wie man im Nachhinein auf die Erfahrung des jungen Roderick Dale schauen wird. Eine vollendete Zukunft – Futur Zwei. Die Ästhetik der 90er Jahre mit VHS-Filmmaterial, die Zitate an die Mode der 60er Jahre mit ikonisch langen Haaren und spirituellem Kleidungsstil oder der Schwarz-Weiß-Film geben den Videoaufnahmen einen Retro-Schliff, eine vorgetäuschte zeitliche Distanz. Sie sind Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart zugleich. 

Gegenwart, weil Shaw das zukünftige Bedürfnis nach transzendentalen Erfahrungen auch mit unserem zeitgenössischen Streben nach Quantifizierung und Optimierung in Beziehung setzt. Er warnt vor diesen rein rationalen Individuen der Zukunft, die sich verzweifelt nach metaphysischen Erfahrungen sehnen. Und er behält recht. Wie sehr der Mensch Glaube und Spiritualität als Ergänzung zu Technik und Rationalität benötigt, wurde jüngst erst bei Beginn der Corona Pandemie offensichtlich. Achtsamkeit-Ratgeber, Yoga Apps, Esoteriker und Astro-Fanatiker schießen nicht ohne Grund wie Pilze aus dem Boden. Rationalität allein lässt den Menschen verkommen. 

„I feel the need to believe“ sagt ein Mann in Quickeners, im 26. Jahrhundert. Und weiter: „Humans believed in what they thought is most real“.
Letzteres mag in dem dystopischen Sci-fi-Setting von Jeremy Shaw romantisch klingen, hinterlässt in Zeiten von Trump und Verschwörungstheoretikern aber ein mulmiges Gefühl. Zwischen dem Bedürfnis an etwas zu glauben und einfach das zu glauben, was einem gerade plausibel erscheint, liegt ein schmaler Grad, dessen Überschreitung uns im aktuellen Tagesgeschehen vor Augen geführt wird.
An diesem Punkt stößt die Glorifizierung der Irrationalität an ihre Grenzen. Auch wenn die Zweckrationalisierung unserer Gesellschaft alles andere als wünschenswert ist, erscheint das absolute Kontrastprogramm, die Flucht in den Rausch, auf Dauer ebenfalls keine Lösung anzubieten. 

Jeremy Shaw – Quantification Triology 
5. September – 29. November 2020
Julia Stoschek Collection
Leipzigerstrasse 60, 10117 Berlin

Veröffentlicht im Tagesspiegel, 09.09.2020