Im Namen der Freiheit

Der Kampf um die Meinungsfreiheit in den USA ist ein Kampf um das Verständnis von Freiheit. Er offenbart ein Ungleichgewicht zwischen Gemeinsinn und Individualismus, der auch für uns relevant ist.

Vor knapp zwei Wochen stürmte ein Konglomerat aus Trump-Anhängern, Verschwörungstheoretikern und Rechtsradikalen das Kapitol in Washington DC. „Im Namen der Demokratie“ verwüsteten Tausende Demonstranten den Regierungssitz. Sie verteidigten, so der Tenor der Teilnehmer, ihr Recht auf eine faire Präsidentschaftswahl sowie ihre Meinungsfreiheit, die ihnen jeweils durch eine „liberale Diktatur der Demokraten“ und deren Fake-News verweigert würde. “So etwas passiert, wenn man uns unsere Freiheit nimmt“, sagt einer der Demonstranten nach den Ausschreitungen.

Es ist die Spitze eines schon lang wachsenden Eisbergs. Die weltweit geteilten Bilder des Putschversuchs zeigen Szenen eines aktuellen Kulturkampfs, der sich, wie so viele amerikanische Konflikte, an gegensätzlichen Vorstellungen von Freiheit entzündet. 

Die Politische Theorie unterscheidet seit langem zwischen negativer und positiver Freiheit, oder, einfacher formuliert, zwischen der „Freiheit von“ und der „Freiheit zu“. Negative Freiheit ist die Freiheit von Zwängen, die Art von Freiheit, die Teenager fordern, wenn sie wollen, dass man ihnen nicht mehr sagt, was sie zu tun und lassen haben. Es ist die Art von Freiheit, die Amerikaner am häufigsten meinen, wenn sie über Freiheit sprechen: individuelle Freiheit. Positive Freiheit hingegen, bedeutet nicht, frei von anderen, sondern mit anderen zu sein. Man könnte sie als soziale und politische Freiheit bezeichnen. Sie meint ein friedliches, pluralistisches Miteinander in der Öffentlichkeit, das es überhaupt erst ermöglicht seine Freiheiten auszuleben. 

Bei Trump und seinen Anhängern fällt auf, dass letztere Version der Freiheit gänzlich zugunsten ersterer, individueller Freiheit geopfert wird. Sie fordern die Freiheit keine Maske zu tragen, die Freiheit sich rechtsradikal zu äußern oder die Freiheit keiner gesetzlichen Krankenkasse beitreten zu müssen. Seit Amtsbeginn radikalisiert Trump die amerikanische Idee der maximalen Freiheit des Einzelnen. Die ohnehin schon von ihr bestimmte Wirtschaft, das Gesundheitssystem und das Waffengesetz wurden unter seiner Regierung vor staatlichen Eingriffen beschützt, um die Freiheit des Einzelnen zu wahren. Ein typisches Wertekonzept der Republikanischen Partei, könnte man meinen. Doch was Trump zusätzlich radikalisiert, ist die Meinungsfreiheit. Er dereguliert die Regeln des politischen Diskurses und mit ihm, die öffentliche Kommunikation. Trump steht für die Freiheit, ungefiltert sagen zu dürfen, was einem durch den Kopf geht – egal ob rassistisch, sexistisch, homophob oder alles zusammen. Im Namen der Freiheit sieht er sich befugt seinen Gedanken freien Lauf zu lassen.

Problematisch daran ist nicht nur, dass Trump mit solchen Aussagen zur Hassrede anstachelt, sondern auch, dass er damit weitestgehend Recht behält. Die amerikanische Verfassung verhält sich weitestgehend ambivalent gegenüber beleidigenden Meinungsäußerungen. Seitdem die freie Meinungsäußerung in den 70er Jahren auf eine allgemeine Freiheit des Ausdrucks ausgeweitet wurde, legitimiert die Verfassung so gut wie jede Form der Äußerung, unabhängig von ihrem Inhalt. Gezeichnet von der Angst, der Staat könne die Freiheit des Einzelnen beeinträchtigen, gilt seitdem: „freedom of speech – no matter what“. 

Doch genau das, war ursprünglich nicht Sinn der Sache. Das Recht sich frei zu äußern wurde in den USA, wie auch in jeder anderen Demokratie, erlassen, um einen rationalen Diskurs zu schützen, in dem Meinungen verantwortungsvoll geäußert und kritisch geprüft werden. Es ging um die Sicherung einer pluralistischen demokratischen Öffentlichkeit, nicht um die Verabsolutierung der Freiheit des Einzelnen, wie Trump und seine Anhänger sie nun auslegen. Und das mit gutem Grund. Eine solche Verabsolutierung bleibt, wie wir gerade beobachten können, nämlich nicht ohne Konsequenzen. Wer sich dazu legitimiert sieht, Rassist zu sein und es für demokratisch hält, sein Wohl über das Wohl der Gesellschaft zu stellen, der sieht sich im Zweifel auch dazu berechtigt, diese Freiheiten mit Gewalt einzufordern. 

Mit dem Sturm auf das Kapitol, dem Glaube an Verschwörungstheorien oder in der Debatte um Fake News, drückt eine beeindruckend große Menschenmenge ihr grenzenloses Verständnis von individueller Freiheit aus. Die positive Freiheit, also die Freiheit mit anderen im öffentlichen Raum, existiert in diesem Modell nicht. Trump hat es erfolgreich geschafft, die Aufmerksamkeit von dem gemeinnützigen Charakter der Meinungsfreiheit auf ihren individuellen Nutzen umzulenken. 

Das eine ist ohne das andere in einer Demokratie aber nicht zu haben. Positive und negative Freiheit bedingen einander. Selbst John Stuart Mill, der wohl wichtigste Denker des Liberalismus, war deshalb der Überzeugung, dass die beiden Konzepte der Freiheit koexistieren müssen, auch wenn sie manchmal kollidieren. Sie müssen ein gesundes Gleichgewicht herstellen. Kurz gesagt, die Freiheit des Einzelnen hat Grenzen. Sie endet spätestens dort, wo die Sicherheit Anderer beginnt. 

Dass Trump und viele andere Brandstifter vorerst von einigen sozialen Plattformen gesperrt wurden, zeigt nicht, dass es ein Übermaß an Zensur gibt. Vielmehr enthüllt die Debatte über Zensur, welche Freiheit tatsächlich angegriffen wird. Nicht die Meinungsfreiheit des Einzelnen ist, wie Trump und seine Anhänger es proklamieren, in Gefahr. Wirklich bedroht ist ihr Mit- und Gegenspieler, die positive Freiheit – die Freiheit mit anderen, die gesellschaftliche Freiheit. Ohne sie, wandelt sich die konsensfähige, friedliche Öffentlichkeit in gewaltbereite Rivalität. 

Nach den Ereignissen in Washington lag ein Vergleich schnell auf der Hand: Menschenmassen, die das Regierungsgebäude stürmen, Verschwörungstheoretiker, die Trump für den Messias und einen sogenannten Q für ihren Propheten halten und etliche Corona-Leugner, die sich in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen – der Putschversuch in Washington wirft einige Parallelen zum August 2020 auf, als es einer deutlich kleineren Demonstranten-Gruppe gelang, die Treppen des Berliner Reichstagsgebäudes mit geschwenkten Reichsflaggen zu erklimmen. 

Ist also das Ungleichgewicht der Freiheitsformen kein rein amerikanisches Phänomen, sondern wird auch bei uns die Freiheit des Einzelnen radikalisiert und instrumentalisiert?

Ad absurdum geführte Freiheitsansprüche werden auch in Deutschland bemüht. Eifrig versucht die AfD die Stimmung der Trump-Anhänger aufzugreifen und auf die deutsche Politik zu übertragen. Die Maskenpflicht schränkt beispielsweise auch der AfD zufolge die Freiheit des Einzelnen ein. Und der beliebte Spruch „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ dient stets und ständig der Rechtfertigung von Hassrede. 

Trotzdem lässt sich die Situation in den USA nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. Der Mangel an Gemeinsinn, der sich in dem aktuellen Kulturkampf der USA äußert, liegt in der verfassungsrechtlich geschützten Idee der maximalen Freiheit des Einzelnen begründet. Die Deutsche Verfassung unterstützt ein solches Extrem an Individualismus nicht. Die Meinungsfreiheit rückt bei uns mit dem Artikel 5 des Grundgesetzes und seinem zweiten Absatz das demokratische Gemeinwohl in den Vordergrund. Hier wird klar definiert, dass die Meinungsfreiheit durch die Rechte und Freiheiten Anderer beschränkt ist. In vielen Fällen erübrigt sich die Forderung daher, etwas „noch sagen zu dürfen“. In Deutschland darf man etwas, das die positive Freiheit anderer einschränkt, nicht sagen. Gerade vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Geschichte Deutschlands, können rassistische Äußerungen im Namen der individuellen Meinungsfreiheit nicht toleriert werden – nicht im Gesetz und auch nicht im öffentlichen oder privaten Diskurs. 

Umso wichtiger ist es, dass auch soziale Medien wie Twitter, Facebook und Instagram beginnen, Verantwortung für das Gleichgewicht der positiven und negativen Freiheit zu übernehmen. Ihre Regulierung durch ein außenstehendes Gremium, das kein Interesse an Nutzerzahlen hat, ist für ein demokratisches Miteinander unausweichlich.

Die aktuellen Ausschreitungen in den USA können uns als Warnung dienen. Sie zeigen, welche Konsequenzen ein Ungleichgewicht zwischen Gemeinsinn und Individualismus hat. Gerade in Krisenzeiten, wie wir sie jetzt erfahren, müssen positive und negative Freiheit als einander bedingende Komponenten begriffen werden. Eine verabsolutierte Freiheit des Einzelnen steht jedem gemeinschaftlichen Projekt im Weg – dem öffentlichen, demokratischen Diskurs ebenso wie der Eindämmung einer Pandemie.