Die reißerische Eleganz aufgewühlter Meereswellen wird den Menschen bis zuletzt in ihren Bann ziehen. Die Energie, die der Welle zum Aufsteigen verhilft, ist dabei dieselbe Energie, die sie anschließend wieder fallen lässt. Ein Wechselspiel der Kräfte, das die Naturgewalt in ihrer größtmöglichen Schönheit erfahrbar macht.
Den Wellengang zu beobachten, wirkt auf uns meditativ. Nicht zuletzt, weil er in seiner Unberechenbarkeit verlässlich bleibt. Er führt uns zyklische Kontinuität, Endlichkeit und Unendlichkeit zugleich vor Augen. Das macht Wellen zum Symbol passiver Erfahrung. Und längst ist diese Symbolik über die Beschreibung von Naturphänomenen hinausgeschwappt. Als Träger von Informationen, in Gestalt der Graphen, sind Kurven und Wellen unser stetiger Begleiter in Alltag, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft.
Wir beobachten ihren Verlauf, interpretieren ihn und verorten uns bestmöglich auf einer Erfolgswelle. Wellen tragen Versprechungen, Hoffnungen, Träume in sich – und in diesen Tagen vor allem auch Befürchtungen und Ängste. Ihre vertikale Dimension lässt an ein Oben und Unten denken, fixiert einen Erfolg und ein Scheitern. Kurven sind Datenwolken und Schablonen, ein grundmodernes Medium der politischen, ökonomischen und sozialen Wahrnehmung und Realität. Die Kurve der steigenden Corona-Fälle, die Fieberkurve und der Dax klären über den aktuellen Zustand der Welt auf, verzeichnen Prognosen und bestimmen unser Empfinden mehr denn je.
Die vielen Graphen rücken ins Licht, was unterschwellig schon seit langem der Fall ist: Diese Welt leidet an einem ausgeprägten statistischen Enthusiasmus. Die eigenartige Rolle, die statistische Erkenntnisse in unserer Gesellschaft spielen, erklärt sich, wenn man ihre Karriere vom 16. Jahrhundert bis heute und über die Gegenwart hinaus nachzeichnet.
Denn die Historie der Informationswellen ist eine Erfolgsgeschichte der Aufklärung, sie folgt ihrem Prinzip der rationalen Logik. Es ist eine Geschichte der Moderne und ihrer stetig steigenden Geschwindigkeit und Komplexität. Der Wille, die eigene Bevölkerung zu zählen, die Erträge der Ernte aufzuzeichnen, um anhand dieser dann Steuern zu berechnen, sie zu fixieren, zu überschauen und zu verwalten, geht bis ins Jahr 2700 vor Christus zurück. Damals wie heute organisieren Menschen mit Aufzeichnungen, Kategorisierungen, Ein- und Um-Ordnungen unsere Gesellschaft. Und schon immer haben es dabei nicht alle in diese Aufzeichnungen geschafft. Schon immer war die Statistik eine Praxis des Ein- und Ausschließens, die eine Welt repräsentiert, die bereits Interpretationen dieser Welt in sich trägt. Sie konstruierte damals wie heute Wirklichkeiten wie Arbeitslosigkeit, Wachstum oder eine Erste und Dritte Welt. Sie simplifiziert und strukturiert, damit wir auf ihrer Grundlage politische Entscheidungen treffen können.
Die Statistik ist ein altes Geschäft. Im 16. Jahrhundert gesellt sich ihr dann aber ein Komplize dazu, der ordentlich Furore machen wird: die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie scheint es uns zu ermöglichen, nicht nur die Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch die Zukunft messbar zu machen. Und das nicht ohne Grund: Mit der Aufklärung und der Entstehung des Buchdrucks im 17. Jahrhundert tritt ein komplett neuartiges Verhältnis der Menschen zur Realität ein.
Während man zuvor in dem Glauben lebte, eine durch Gott vorbestimmte Zukunft zu erwarten, wurde nun die Vorstellung einer stabilen, in sich geschlossenen Welt fragwürdig. Und um dieser Unbestimmbarkeit, die lähmend sein kann, entgegenzuwirken, nimmt man sich ein Instrument zur Hand, das dabei hilft, die Zukunft greifbar, vorhersehbar und planbar zu machen. Diesem Zweck dienen Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie fortan. Sie sollen rationale, objektive Erkenntnisse gewinnen, Realitäten repräsentieren und vorhersagen. Dafür musste die Wahrscheinlichkeitsrechnung allerdings erst einen erstaunlichen Imagewechsel durchleben.
Denn ursprünglich widmete die Wahrscheinlichkeitsrechnung sich den unwahrscheinlichen Ereignissen wie dem Glücksspiel. Der italienische Gelehrte Gerolamo Cardano machte sich im 16. Jahrhundert als Erster Gedanken, wie er seine Gewinnchancen beim Wetten verbessern könne, mit dem er sich zwischenzeitlich seinen Unterhalt finanzierte. Es ging ihm also vorerst um vage, spekulative Berechnungen, die den Weg für ein mathematisches Kalkül ebneten, das es bald ermöglichen sollte, landwirtschaftliche Erträge zu prognostizieren. Spätestens als der Belgier Adolphe Quetelet 1844 die Normalverteilung in die angewandte Statistik überführt, war der Schritt gemacht: Aus der Befragung Weniger konnte ein Ergebnis für Viele vorhergesagt werden.
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung verwandelte sich aufgrund des aufgeklärten Weltverständnisses von einer unwahrscheinlichen zu einer wahrscheinlichen, fast sicheren Methode, mit der man die Zukunft vorhersagen kann. Heute soll sie nicht über Eventualitäten aufklären, sondern ganz im Gegenteil, sichere Prognosen in unsicheren Zeiten bieten – sie ist ein genuin modernes Phänomen.
Mit immer abstrakter werdenden mathematischen Konzepten arbeiten Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung sich vor, werden zur eigenen Wissenschaft, der Stochastik. Sie ummanteln die neue Unsicherheit, gaukeln eine erfasste Realität vor, die Orientierung stiftet und machen die undurchsichtige Zukunft nur fiktiv durchschaubar. Schließlich kann gerade das Unwahrscheinliche eintreten, zum Beispiel eine Pandemie – und damit ist das Wahrscheinliche nur wenig realistisch.
An der Börse wird die Welle zur quasi-religiösen Ikone. Der Wirtschaftswissenschaftler Kondratjew entwarf 1926 seine berühmte Wellen-Theorie, die das zyklische Verhalten der Wirtschaftsentwicklung beschreibt. Kurze Wellen, lange Wellen, flache Wellen, steile Wellen, brechende Wellen. Aber auch in der Kunst erfuhr die Kurve einen Aufschwung. Die Geschwindigkeitslinien von Giacomo Ballas, Vertreter des italienischen Futurismus, sind sinnbildlich für das damals neue Zeit- und Raumgefühl der Menschen. Die Gesellschaft berauscht sich an der Beschleunigung, die ihr widerfährt.
Wie die Fluiddynamiker beobachten jetzt nicht nur Wissenschaftler die Strömungen in Politik und Wirtschaft. Auch jeder Einzelne beobachtet und vergleicht sich selbst anhand der statistischen Normalverteilungen. Die Unsicherheit steigt, die Risikogesellschaft entsteht. Wir wissen nicht, was passieren wird, aber wir können etwas Bestimmtes erwarten, um einen Anhaltspunkt zu haben, an dem wir uns in der Gegenwart orientieren und um den wir herum planen.
Man versucht, die Zukunft festzulegen, in gewisser Weise vorherzubestimmen – als wolle man die Zukunft zur Anpassung zwingen. Und handelt dabei absolut paradox: Man entwickelt ein Szenario für die Zukunft und entscheidet dann für die Gegenwart, man definiert das Sichere über das Unsichere. Die Soziologin Elena Esposito unterscheidet in diesem Zusammenhang die gegenwärtige Zukunft von der zukünftigen Gegenwart. Während die gegenwärtige Zukunft in Form von Prophezeiungen Orientierung bietet, ist die zukünftige Gegenwart jene, die tatsächlich eintritt. Und natürlich gibt es große Differenzen zwischen beiden Versionen. Eine Prognose bleibt spekulativ. Externe Einflüsse können nicht einkalkuliert werden. Mit einer Pandemie hat niemand gerechnet. Und auch wenn die fiktiven Prognosen der Wahrscheinlichkeitsrechnung positiv auf die Realität zurückwirken, verleiten sie dazu, allein für die Zukunft zu leben.
Der Druck steigt. So sehr, dass die Rate der Depressionen und Angststörungen in den letzten Jahren stetig anzieht. Haben wir verlernt, in der Gegenwart zu leben? Leben wir in Schablonen der Zukunft, die wir in der Gegenwart nur noch ausmalen? Es scheint, als hätten wir uns in all der Eile, in der Zukunft anzukommen, bevor die Gegenwart vorbei ist, überschlagen. Wir haben uns an den Prognosen und Erwartungen berauscht, besoffen und ertränkt.
Aktuell steht aber alles Kopf. Unser individuelles Zeitempfinden ist derzeit schummrig, das gesellschaftliche Leben angehalten, pausiert. Es ist die Zeit ewiger Sonntage, eine Phase, in der die nahe Zukunft nicht zu (be)greifen ist. Ist diese Zeit der Quarantäne vielleicht ein dankbarer Impuls, um sich aus den Klauen der Zukunftsbesessenheit heraus zu winden? Werden wir nicht gerade Zeuge davon, dass eben doch nicht alles planbar sein kann und dass auch das, mit etwas Distanz betrachtet, gar nicht so schlimm ist?
In Zeiten der Haltlosigkeit, wie wir sie gerade erleben, brauchen wir eine Tugend, die uns erfolgreich von den Märkten und ihrem Zeitkomplex abtrainiert wurde: Geduld. Sie kann uns begreifen lassen, dass sehr viel mehr zu unseren passiven Erfahrungen gehört als der Wellengang des Meeres. Wenn alles gut geht, wird auch der Anstieg der exponentiellen Corona-Kurve wieder fallen. Die Welle wird brechen und abebben.
Veröffentlicht im Tagesspiegel, 27.04.2020